Oder: Wie ein Text mein Leben auf den Kopf stellte
Nach meiner ersten Gedenkstättenfahrt ging es mir ordentlich schlecht. Mir fiel es schwer zu lächeln, ich fing ständig vermeintlich grundlos zu weinen an. Dinge, die mir früher Freude bereiteten, empfand ich nun als sinnlos oder gar anstrengend. Meine Gedanken kreisten ständig um dieses eine Thema, kamen aber zu keinem sinnvollen Ergebnis, sondern kreisten nur. Mir wurde geraten, Tagebuch zu schreiben. Das versuchte ich auch: Ich schrieb jeden Tag zusammengefasst in zwei oder drei Sätzen auf, so passiert war. Sachlicher Bericht statt emotionale Abhilfe, denn helfen tat es mir nicht.
Mir ging es schlecht, ich wollte, dass das Gedankenkreisen aufhört. Ich wollte nicht mehr so traurig sein. Ich wollte nicht mehr weinen. Ich fing an, immer schlechter zu schlafen, wodurch meine Konzentration litt. Mir fiel nichts ein, was ich gegen all das hätte tun können. Darüber zu reden kam nicht wirklich infrage, da ich das Gefühl hatte, mich niemandem anvertrauen zu können.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus: Ich fasste den Entschluss, alle meine Gedanken aufzuschreiben. Da mir in meinem Zimmer die Decke auf den Kopf fiel, nahm ich mein neu begonnenes Tagebuch und einen Bleistift und begann, durch meine Nachbarschaft zu spazieren. Sobald mir wieder einer dieser Gedanken kam, die mich schon seit Wochen plagten, schrieb ich ihn auf.
Das machte ich, bis die Sonne unterging und es zu dunkel zum Schreiben wurde. Ich ging nach Hause. Nutzte die letzten Meter, um tief durchzuatmen. Ich schloss die Haustür auf und ging direkt in mein Zimmer. Ich las mir alles durch, was ich aufgeschrieben hatte. Ich holte mir kariertes Papier und fing an, aus meinem Gedankengewusel, welches sich nun auf den gelblichen Seiten meines Tagebuchs befand, erst Verse und dann Strophen zu bilden. Lange dauerte es nicht. Ich tippte die Strophen schnell am Computer ab und erhielt 6 Seiten, die ich mir gründlich durchlas.
Ich war sprachlos, denn das, was ich da las, fühlte sich nach so viel mehr als nur Gedankengewusel an. Es hatte Inhalt und Struktur. Eine Form und eine Botschaft. Es baute sich auf, war mit Emotionen und – am wichtigsten – der Wahrheit gefüllt. Ich fühlte mich erleichtert, da die Last dieser Worte nun nicht mehr in meinem Kopf ruhte, sondern auf Papier.
Vorher hatte ich noch nie freiwillig einen Text geschrieben. Alle meine vorherigen literarischen „Meisterwerke“ waren unter Zwang für die Schule entstanden und waren dementsprechend darauf ausgerichtet gewesen, mir eine möglichst gute Note einzubringen. Frei heraus und ohne Vorgabe etwas schreiben? Warum hätte ich das vorher tun sollen? Es gab keinen Grund und keinen Bedarf. Als sich das änderte und es mir schlecht ging, war da ein Wort und dann ein kleiner Satz der Strophen und schließlich einen ganzen Text hinter sich herzog.
Hilfe! Ich habe einen Text geschrieben...
Und was macht man nun mit so einem Text? Klar: Einer völlig fremden Person vorlesen. Ich las den Text tatsächlich einer Klassenkameradin vor, mit der ich eigentlich nichts zu schaffen hatte. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, warum ich mich ihr anvertraute, doch ich bin froh, dass ich es getan habe. Es war der Anfang einer tollen Freundschaft, die ich mehr als nötig hatte. Viele andere aus meiner Klassenstufe haben unschöne Dinge über meine Emotionalität und Art, damit umzugehen herumerzählt. Kinder sind gemein.
Erwähnte Klassenkameradin, die die Offenheit besaß, mir zuzuhören, sprach mir Mut zu, meinen Text den Lehrerinnen vorzulesen, die die Gedenkstättenfahrt damals organisiert und durchgeführt hatten. Ich kämpfte lange mit mir selbst, bis ich mich dazu entschloss, es tatsächlich zu tun. Es war befremdlich, acht Minuten lang meinen Lehrerinnen etwas vorzulesen. Einfach eine komische Situation, doch es lohnte sich, denn das Feedback war überwältigend. Was sie mir danach ermöglichten, war jedoch noch überwältigender: Sie boten mir an, meinen Text auf zwei ganz besonderen Veranstaltungen vorzulesen.
Das erste Mal allein auf einer Bühne
Die erste Veranstaltung sollte schon eine Woche später stattfinden. Da ich an dem Tag eine Klausur und einen Test schrieb, hatte keine Zeit, mir Gedanken über das noch Anstehende zu machen. Um mir Gedanken zu machen, hatte ich zudem zu wenig Informationen. Man hatte mir vorher lediglich die Worte „Lehrerfortbildung“, „Zeitzeugin“ und „vorlesen“ sowie das Datum an den Kopf geworfen. So saß ich zusammen mit meiner Lehrerin in irgendeinem Gebäude auf irgendeiner Veranstaltung und hinterfragte im Minutentakt, was ich da eigentlich zu suchen hatte.
Dank meiner Detektivfähigkeiten fand ich heraus, dass ich mich in der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt befand und dass tatsächlich eine Zeitzeugin anwesend war. Als sich endlich jemand dazu entschloss, mich über meine Aufgabe aufzuklären, war ich sehr erleichtert. Ich sollte zum Ende der Veranstaltung den Anfang meines Textes vorlesen und durfte dann den kompletten Text der Zeitzeugin überreichen. Das lief auch alles sehr gut und ich war überwältigt von dem Feedback, das ich erhielt, obwohl ich nur einen Bruchteil des Originaltextes vorlas.
Anfang November sollte die zweite Veranstaltung stattfinden. Diesmal hatte ich mehr Informationen und auch mehr Zeit, um mich vorzubereiten. Anlässlich der Novemberpogrome sollte eine Gedenkveranstaltung stattfinden, auf der ich persönlich vorlesen würde. Der Veranstalter lud mich ein, meinen Text vorher einmal mit ihm zu üben und mir den Veranstaltungsort anzusehen. Diese Einladung nahm ich gerne an und verschaffte mir dadurch große Sicherheit, von der am Tag der Veranstaltung nichts mehr übrig war. Ich war so aufgeregt wie noch nie. Bevor ich dran war, wurden viele Reden gehalten und andere Texte vorgelesen. Als ich dran war, wackelte ich unsicher auf die Bühne, auf der ich nun ganz alleine stand. Mit einem Mikro, das richtig gut funktionierte. „Wie ein Profi“, dachte ich. Im Publikum saßen in etwa 50 Leute, aber es können auch mehr gewesen sein. Ich kann mich erstens nicht so gut erinnern und zweitens bin ich sehr schlecht darin, Menschenansammlungen numerisch abzuschätzen.
Nachdem ich vorgelesen hatte und die Veranstaltung beendet war, konnte ich mich vor Danksagungen und tollem Feedback nicht retten. Mir war das unangenehm. Ich konnte nicht einmal in Ruhe die Toilette aufsuchen, weil auch dort Leute warteten, die mir die Hand schütteln wollten. Ich fand es toll, dass sich all die Leute bei mir bedankten, aber gleichzeitig war es mir unangenehm, weil ich in der Hinsicht sehr bescheiden bin.
Ein Text? Oder doch ein Sprungbrett?
Durch den Text wurden mir noch andere Möglichkeiten zuteil:
- Ich durfte ihn auf der Veranstaltung „Schule zeigt Courage“ im Januar 2019 vorlesen.
- Ich durfte für das Treffen „Jugend erinnert“ nach Berlin fahren.
- Ich erhielt eine Auszeichnung meiner Schule.
- Ich erstellte einen Film für meinen Kunstkurs, der den Text weiter verarbeitete und bekam dafür die Bestnote.
- Ich durfte ihn vor Ort, also im Konzentrationslager, im Rahmen einer weiteren Gedenkstättenfahrt vorlesen. Die Fahrt war eine sehr besondere, da sie von einer Zeitzeugin und einem Filmteam begleitet wurde.
- Ich durfte eine dritte Gedenkstättenfahrt begleiten.
- Ich habe ein FSJ angeboten bekommen und absolviert.
Und am coolsten ist, dass ich durch den Text den Hermann-Spier-Preis 2019 gewonnen habe. Am Tag der Preisverleihung war ich unendlich stolz auf mich und merkte, dass ich meinen Platz gefunden habe.
Über all das hinaus hat mich der Text und die Arbeit mit ihm zu mehr Selbstbewusstsein verholfen. Das hatte ich auch dringend nötig. Für das kommende Jahr sind weitere Textvorträge und neue Gedenkstättenfahrten geplant.
Noch eine wichtige Sache hat der Text mir verschafft: Durch ihn habe ich meine Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt. Er ist der Ausgangspunkt für diesen Blog und eben mein erstes Werk. Nachdem ich ihn geschrieben hatte, schrieb ich gleich noch einen und dann fast ein Jahr lang gar nichts. Bis ich dann vor einiger Zeit gleich eine ganze Reihe von Texten geschrieben habe, die ich nun nach und nach hier veröffentliche.
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