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Das zweite Mal dort

Meine zweite Fahrt war in jeder Hinsicht genauso anstrengend wie die Erste. Dafür aber in jeder Hinsicht besonders. Schon dass ich überhaupt mitfahren konnte, war besonders, da ich nicht zu der fahrenden Klassenstufe oder den Begleitern gehörte. 

Wenige Wochen nach der Rückkehr von meiner ersten Fahrt verspürte ich den Wunsch eines Tages in die Gedenkstätte zurückzukehren, um “es besser zu machen”. Was genau das zu bedeuten hatte, wusste ich zu diesem und zu keinem späteren Zeitpunkt. Erst als er in Erfüllung ging, offenbarte sich mir seine Bedeutung. 

Das Besondere war jedoch, dass die Gruppe von einer Zeitzeugin und einem Filmteam begleitet werden sollte. Mir war Erstere schon bekannt. Ich hatte die große Ehre, auf einer Veranstaltung ihre Bekanntschaft zu machen, auf der ich meinen Text “Du stehst dort” Vorlesen durfte. 

Ihr Name ist Batsheva Dagan und sie ist die beeindruckendste Frau, die ich je kennenlernen durfte. Sie ist einer dieser Menschen, den man mögen muss, dessen Bescheidenheit und Stärke man bewundern muss. Sie ist für mich durch ihre Art und Arbeit ein großes Vorbild und eine noch größere Inspiration. 

Trotz der besonderen Umstände wurde darauf geachtet, dass es für die Schüler eine “ganz normale Gedenkstättenfahrt” wird, damit für sie der Fokus auf dem Lernen und Erfahren liegt. Sicherlich gestaltete sich dies durch die Erzählungen von Frau Dagan besonders intensiv.

Mir persönlich ging alles noch näher wie beim ersten Mal. Das ärgerte mich da, ich dachte hinter meinem Wunsch, es besser zu machen stecke, dass ich nicht mehr so emotional sein und weniger oder gar nicht weinen wollte. Es stellte sich heraus, dass das genau das Gegenteil von der eigentlichen Bedeutung war. Mein Wunsch, es besser zu machen, bedeutete, meine Gefühle zuzulassen, sie zu akzeptieren und gleichzeitig mehr auf meine Bedürfnisse zu achten. 

Das fand ich heraus, als ich mich traute, zum ersten Mal meine Kopfhörer abzunehmen und mich nach hinten fallen zu lassen, weil es mir zu viel wurde. Diese Entscheidung, die ich negativ bewertete, löste bei mir erstaunlicherweise keine negativen Gefühle aus, im Gegenteil. Ich merkte, wie es mir besser ging. 

Ich möchte deshalb an alle appellieren, das Gleiche zu tun. Lasst eure Gefühle zu und akzeptiert sie, egal wie sie aussehen. Achtet auf eure Bedürfnisse. Nehmt die Kopfhörer ab, wenn ihr es braucht und fragt nach einer Auszeit, wenn euch danach ist. 

Während einer kurzen Pause der Tour im Stammlager fragte mich eine Schülerin, warum ich noch mal mitgefahren bin. Für sie sei es so schlimm, dass sie sich das nicht ein zweites Mal anschauen würde. Mich überrumpelt diese Frage. Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte, da ich keine Antwort hatte. Sie fragte auch, wie es beim zweiten im Vergleich zum ersten Mal ist. Ohne groß nachzudenken, antwortete ich impulsiv: Viel schlimmer. Und irgendwie war es auch so. 

Während wir durch das Stammlager alleine laufen, werden wir in Birkenau an vielen Stationen von Frau Dagan begleitet. Schon ihre Anwesenheit löst bei mir ein beklemmendes Gefühl aus. Zusammen gehen wir den Weg ab, den sie damals bei ihrer Ankunft nehmen musste. Wir schauen uns Baracken an, wo sie schlafen und arbeiten musste. Frau Dagan lässt es sich nicht nehmen, uns alles zu erzählen, was sie noch weiß. 

Das Filmteam bat ein paar Schüler Gedichte aus Frau Dagans Buch “Gesegnet sei die Fantasie, verflucht sei sie” vorzulesen. Zusätzlich durfte ich meinen Text “Du stehst dort” vorlesen. Das Ganze sollte gefilmt werden. Als Hintergrund sollten Orte in Birkenau dienen. Deshalb fuhren wir als kleinere Gruppe noch mal genau dorthin. 

Frau Dagans Texte an dem Ort zu hören, der sie inspiriert hatte, war bewegend. Ich hatte sie schon oft gehört und noch öfter gelesen, aber nie haben sie mich so bewegt. Das Schüler*innen ihre Texte vorlasen, machte es noch besonderer. 

Das Lesen fiel mir an diesem Tag nicht leicht, meine beste Performance war es nicht, aber es war wahrlich eine besondere. Nach dem Vorlesen war ich total energiegeladen und stolz. Schon fast freudig. Die allgemeine Stimmung war gedämpft, aber ich war glücklich und das an diesem schrecklichen Ort. Warum war ich glücklich? Nun ja, zum einen, weil ich mich getraut hatte, meinen Text vorzulesen. Aber auch weil Frau Dagan lebt, und das zeigt das, dass ihr Plan zumindest nicht komplett umgesetzt wurde. Ich war glücklich, weil sich eine Schulklasse erneut dem Thema stellt und weil daraus ein Film entsteht, der es und Frau Dagans Geschichte noch unzähligen mehr nah bringen wird.

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