You are currently viewing Du stehst dort

Du stehst dort

Du hast dich vorbereitet. 
Du hast Texte gelesen, Bilder angeschaut, Filme gesehen. 
Und trotz der Vorbereitung,
Trifft es dich wie ein Schlag,
Als aus dem Vorher das Hier und Jetzt wird.
Wie ein Schlag, mitten ins Gesicht.
Unvorbereitet. 

Du stehst dort. 
Vor den Gebäuden, die du von den Schwarz-Weiß-Fotos kennst.
Über dir prangt die zynische Inschrift.
Die nicht nur zynisch, sondern auch gelogen ist.
Denn Arbeit macht nicht frei.
Arbeit machte nicht frei.
Arbeit wird niemals frei machen. 

Beklemmung macht sich breit.
Du fühlst dich fehl am Platz.
Zwischen dir und dem Hier ist nun keine bequeme Distanz mehr.
Du stehst dort.
An diesem Ort, wo das alles passiert ist.
Das Einzige, was dich nun noch davon trennt, ist die Zeit.
Du bist aus einer anderen Zeit.
Und trotzdem bist du mittendrin.
Das wird dir schlagartig klar.
Darauf bist du nicht vorbereitet.
Du bist unvorbereitet.
Hattest du dich nicht vorbereitet? 
Dir wird klar, hierauf kann man sich nicht vorbereiten. 

Du stehst dort.
Du realisierst, dass die Geschichte eben nicht nur,
Eine Geschichte ist.
Was für dich Geschichte ist, War für andere Gegenwart.
Du bist mittendrin in deren Gegenwart,
Obwohl sie für dich Geschichte ist.
Du kannst das nicht leugnen.
Du kannst das aber auch nicht begreifen.
Du bist mittendrin.
Du stehst dort. 

Du stehst dort.
Und kannst deine Augen nicht verschließen.
Weil es direkt vor dir ist.
Um dir ist. 
In dir ist.
Egal wie sehr du es versuchst,
Du kannst deine Augen nicht verschließen.
Und das ist gut.
Zu viele Augen wurden geschlossen.
Also mach wenigstens deine auf.
Mach deine Augen auf!

Du stehst dort.
Der Boden unter deinen Füßen gezeichnet,
Vom Gewicht der Millionen Füße,
Die vor dir hier standen. Füße wie deine.
Füße die, wie deine, in bequemen Schuhen steckten.
Füße anders als deine.
Füße die anders als deine in unbequemen Holzschuhen steckten.
Oder Füße die, anders als deine, in gar keinen Schuhen steckten. 

Du stehst dort.
Triefnass von deinen Privilegien.
Die du überall mit hinschleppst,
Und nicht mal zur Kenntnis nimmst.
Weil sie für dich selbstverständlich sind.
Du hast das Privileg freiwillig hier zu sein.
Du hast dich frei dafür entschieden hier zu sein.
Du hattest eine Wahl,
Und du hast dich hierfür frei entschieden.
Das konnte nicht jeder. 

Freiheit ist heute selbstverständlich.
Doch Freiheit ist ein Privileg.
Damals war Freiheit nicht selbstverständlich.
Damals war man nicht frei.
Damals konnte man nur noch hoffen,
Irgendwann wieder frei zu sein.
Und so hofften sie, dass wenn sie genug arbeiten,
Dass sie dann irgendwann wieder frei sein werden.
Denn: “Arbeit macht frei”, So stand das da.
Sie wussten nicht, dass das, was ihnen wieder ein wenig Hoffnung gab,
Bloß eine zynische Lüge war.

Du stehst dort.
Menschen werden zu Tätern, wenn du ihnen ein Opfer gibst.
Und man gab ihnen nicht nur ein Opfer.
Es war nicht nur ein Opfer.
Es waren über 6 Millionen Opfer.
Und so wurden sie zu Tätern.
Es waren Menschen, die das taten.
Menschen, die grausame Dinge taten.
Menschen, die ohne Grund Grausames taten.
Menschen, die anderen Menschen Grausames antaten.
Menschen. 

Du stehst dort.
Heute eine würdige Gedenkstätte,
Die vorher Menschen ihre Würde nahm.
Würde ist die Grundlage des Selbstwertgefühls.
Und was ist ein Mensch ohne Selbstwertgefühl?
Was ist ein Mensch ohne Würde?
Ein Unrecht, das Menschen all ihre Rechte nahm,
Selbst die, die man nicht nehmen kann.
Wie ihr Existenzrecht.
Eine Unmenschlichkeit, die Menschen ihre Privilegien nahm,
Auch damals waren sie für die Menschen selbstverständlich.
Denn genau das ist menschlich.
Du wirst dir deiner Privilegien erst bewusst, wenn sie dir genommen werden.
Oder wenn du siehst, wie sie anderen genommen werden.
Und sie wurden genommen. 

Du stehst dort. 
Vor einer Wand. 
Nicht irgendeine Wand,
Die schwarze Wand. 
Hier wurden sie erschossen. 
Der Boden getränkt von ihrem Blut.
Getränkt von ihren letzten Worten. 
Ihrem letzten Schweigen. 
Ihren letzten Gedanken.
Ihrem letzten bisschen Würde.
Das letzte bisschen Würde,
Was sie sich versuchten zu bewahren.
Das letzte bisschen Würde,
Aus einer Zeit, in der es besser war.
Und obwohl es keine Hoffnung gab,
Hielten sie an diesem winzigen Teil fest.
Bis sie dort standen.
Und es wirklich keine Hoffnung mehr gab.
Du stehst dort.
Vor dieser Wand.
Vor dieser Wand fielen tausende Schüsse.
Tausende Schüsse, die tausende Menschen töteten.
Und wenn du leise bist,
Dann kannst du sie heut noch hören. 

Du stehst dort.
Dort, wo sie aus den Zügen ausgeladen wurden.
Ausgeladen aus Viehwagons, die mit bis zu 80 Menschen vollgestopft waren.
Kein Platz. Kein Platz zum Atmen, geschweige denn Stehen oder gar Schlafen.
Du stehst dort. Auf der sogenannten Judenrampe.
Dort wo die Bewegung eines Daumens ein Leben beenden konnte.
Dort wo ihr Weg in den Tod erst richtig begann.
Dort wo ihr Marsch in die Gaskammer begann.

Du stehst dort.
2000 Menschen, in einem Raum zusammengepfercht.
In einem Raum, der nur dafür gebaut wurde eine Frage zu lösen.
In einem Raum, der akribisch konzipiert wurde.
Akribisch konzipiert, bis er diese Frage auch effizient löste.
Effizienz.
Effizienz, das wurde groß geschrieben.
Du stehst dort.

Vergast.
Sie wurden vergast.
Sie wurden vergast mit Zyklon B.
Zyklon B war ihre effiziente Lösung.
Zyklon B ist Ungeziefervernichtungsmittel.
Eigentlich benutzt, um Ungeziefer zu vernichten.
Doch das waren sie in ihren Augen. Ungeziefer.
Ungeziefer, das vernichtet werden muss.
Ungeziefer, das vernichtet wurde.

Du stehst dort.
Die Luft war voll von Asche.
Asche, die sich stiefeltief auf dem Boden sammelte.
Ein Geruch, der atmen unmöglich macht.
Der sich in ihrer Nase festsetzt.
Der sie fortan nicht mehr loslässt.
Der sie heimsucht, verfolgt und nicht mehr schlafen lässt.
Doch das hielt sie nicht davon ab, die Öfen weiter zu stopfen.
Zu stopfen mit Menschen, Menschen, die vor ein paar Minuten noch lebten.
Menschen.

Du stehst dort.
Menschen, wie am Fließband abgeführt, verschleppt, erniedrigt,
Beraubt, gedemütigt, gefoltert, ermordet und letztendlich verbrannt.
Selbst im Tod ließ man sie nicht in Ruhe.
Beraubte sie um das Letzte, was ihnen noch geblieben war:
Ihren Körper.

Effizienz.
Sie verschwendeten nichts,
Denn nichts durfte verschwendet werden.
Recycling auf einem widerwärtigen Niveau.
Haare zu Garn gesponnen.
Goldzähne eingeschmolzen.
Asche als Dünger missbraucht.
Und trotz vermeintlicher Effizienz war es nicht genug.
Sie vernichteten nicht genug.
Doch wann wären es genug gewesen?
Wann wären genug Menschen grundlos gestorben?
Dann, wenn sie ihre Aufgabe,
Gemäß dem deutschen Standard gewissenhaft erfüllt hätten.
Das bedeutet, Wenn sie alle vernichtet hätten. Du stehst dort. 


Zwischen Hunger, Leid, Verzweiflung, Elend und Tod waren Kinder.
Kinder.
Kinder, die nun wirklich gar nichts getan haben.
Kinder, die nur zur falschen Zeit am falschen Ort geboren wurden.
Doch anscheinend reichte das. Kinder, die noch keine Zeit hatten.
Keine Zeit hatten auch nur irgendetwas falsch zu machen.
Keine Zeit haben werden etwas falsch zu machen.
Nicht, dass damals irgendjemand von ihnen etwas falsch gemacht hätte.
Niemand von ihnen hat etwas falsch gemacht.
Doch am wenigsten die Kinder.
Niemand von ihnen hat etwas falsch gemacht.
Niemand hat etwas gemacht.
Richtig: Niemand hat etwas dagegen gemacht.
Damals wurde nichts dagegen gemacht.
Damals wurde nicht gefragt.
Damals wurde am besten erst gar nicht gedacht.
Damals wurde gehorcht, salutiert und ausgeführt.

Du stehst dort.
Du bist fassungslos.
Du weißt nicht, was du tun sollst.
Du weißt nicht, was du sagen sollst.
Du weißt nicht, was du denken sollst.
Du weißt nicht, was du fühlen sollst.
Doch das ist okay.
Es ist nur wichtig, dass du nicht versuchst es zu verstehen.
Bitte versuch nicht, es zu verstehen.
Da gibt es nichts zu verstehen.
Du kannst es nur hinnehmen.
Und das Beste draus machen.
Ich meine irgendetwas Positives draus machen.
Wie endlich deine Augen aufmachen.
Und es besser machen.

Schreibe einen Kommentar