You are currently viewing Du musst nicht weinen, kannst es aber

Du musst nicht weinen, kannst es aber

Während eines Rundgangs durch das Stammlager des ehemaligen Konzentrationslagers fiel einer Lehrerin eine Schülerin auf, die ständig alles fotografierte und dadurch zurückfiel und nicht mehr zuhörte. Die Lehrerin ging auf sie zu und fragte sie, warum sie so viel fotografierte, erwartete aber keine Antwort, sondern gab ihr noch einen Denkanstoß: „Ist es vielleicht um dich abzulenken und abzuschirmen?“. Ich fand das bemerkenswert, weil ich das Fotografieren nie so betrachtet hatte. Daraufhin beobachtete ich mich selbst: Jedes mal, wenn mir etwas unangenehm war oder ein schlechtes Gefühl auslöste, schaute ich auf mein Handy oder begann in meiner Tasche zu kramen. 

Die Angst davor, mit negativen Dingen konfrontiert zu werden, ist völlig normal. Keiner von uns mag es, sich schlecht zu fühlen. Meistens haben wir aber nicht Angst vor den Gefühlen an sich, sondern vor unseren Reaktionen. Diese sind uns oft unangenehm, wie zum Beispiel das Weinen vor anderen. Viele Menschen zeigen nicht gerne Gefühle, besonders nicht, wenn es negative sind. Weil Weinen zum Beispiel gesellschaftlich oft als Schwäche abgewertet wird, haben es sich viele Leute leider angewöhnt, in der Öffentlichkeit nicht zu weinen. Statt dem Gefühl nachzugehen, wird sich mit etwas abgelenkt. 

Ich möchte dich hier ermutigen, zu deinen Gefühlen zu stehen und dich nicht abzulenken. Stattdessen kannst du schauen, dass du einen guten Umgang mit ihnen erlernst. Das ist für dich langfristig gesehen eh besser.    

Du musst nicht immer ganz vorne mitlaufen, gehorsam zuhören und dir alles brav merken, was der Guide erzählt, sondern du darfst auch mal nicht zuzuhören, wenn es dir zu viel wird. Das brauchst du nicht hinter einer Tätigkeit (wie Fotografieren) verstecken. Nimm stattdessen die Kopfhörer ab und nimm dir Zeit für deine Gefühle, sollten sie zu heftig werden.

Erwarte kein Gefühl. 

Es ist nicht normal, dass du weinst, lachst, traurig oder wütend bist, weil es kein „normal“ gibt. Gefühle sind etwas ganz Individuelles. Egal, was du fühlst, es ist für dich das Richtige. Du solltest dich auf keinen Fall abwerten, nur weil du emotional auf eine bestimmte Weise reagierst oder eben nicht. Bei diesem Thema ist es wichtig, dass du dich einfach damit auseinandersetzt und verstehst, welche Grausamkeit dahinter steckt und nicht, dass du in Tränen ausbrichst. Es ist auch wichtig, dass du alle deine Gefühle ernst nimmst und keines als falsch abtust. Versuche, auch unangenehme Gefühle anzunehmen und schau, wie du am besten mit ihnen umgehst. Mir hilft es, meine Gedanken aufzuschreiben oder mich mit anderen auszutauschen. 

Ich habe mich schon oft in Gesprächen wieder gefunden, in denen mein Gegenüber berichtete, dass sie nicht weinen konnten und besorgt darüber waren. Jedoch ist es völlig in Ordnung, nicht zu weinen. Es bedeutet nicht, dass dir das Thema deshalb weniger nah geht oder du es nicht furchtbar findet. Es bedeutet, dass du deine Gefühle möglicherweise anders ausdrückst oder es nicht magst, in der Öffentlichkeit zu weinen. Vielleicht warst du aber auch einfach zu geschockt dazu. Die Möglichkeiten sind endlos und letztendlich ist es nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass du verinnerlichst, dass alle Gefühle erlaubt und richtig sind und dass du sie nicht unterdrücken musst. 

Sollten dich deine Gefühle überfordern oder es dir sehr schlecht gehen, dann versuche dich mitzuteilen. Rede mit deinen Mitschüler*innen oder vertraue dich einer Begleitperson an. Ich habe mich damals nicht getraut, mit meinen Mitschüler*innen zu reden, deshalb wollte ich eine Begleitperson ansprechen. Oh man ging mir dabei die Pumpe. Ich hatte schon mehrere Stunden versucht, ihn anzusprechen, wenn er alleine war, leider erfolglos. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach ihn an, obwohl er in einem Kreis mit allen anderer Begleitern stand und sich unterhielt. 

Deswegen empfehle ich allen Begleitpersonen ansprechbar zu sein. Präsentiere dich so, dass die Schüler das Gefühl haben, sie könnten mit dir reden. Dabei ist nichts schlimmer, als ständig mit den anderen Begleitern zusammenzukleben. Für manche Jugendliche stellt das Ansprechen einer Aufsichtsperson mit einem persönlichen oder emotionalem Thema eine große Herausforderung dar. Die Angst steigt dabei exponentiell zu der Anzahl der anwesenden Erwachsenen. 

Das Einfachste ist, sich während Busfahrten, Führungen und Mahlzeiten unter die Schüler*innen zu mischen. Du sollst hierbei auf keinen Fall deine Autoritätsposition aufgeben und auf Kumpel machen, sondern dich nur ein wenig annähern. Du kannst dich auch während der Reflexionen und Auswertungsrunden einbringen und nicht nur das Einleiten, Führen und Beenden übernehmen. Das bietet sich besonders (aber nicht nur) an, wenn es auch deine erste Fahrt ist. Ich erinnere mich an einen Begleiter auf meiner dritten Fahrt, der sich des Öfteren in Gesprächsrunden einbrachte und dabei auch seine Emotionen deutlich zeigte, die Schüler*innen damit aber nicht belastete. Man merkte, dass es den Schüler*innen sofort leichter viel, sich mit ihm zu unterhalten. 

Es empfiehlt sich, auffällige Schüler öfter in ein Gespräch zu verwickeln, sei es, weil sie besonders emotional oder emotionslos scheinen. Durch das verwickeln in ein Gespräch, egal zu welchem Thema, zeigst du, dass sie mit dir reden können. Indem du sie ansprichst und das Gespräch eröffnest, nimmst du ihnen die Angst, dass sie selbst jemand ansprechen müssen. 

Zurück zu meiner kleinen Geschichte: Ich sprach ihn an und sagte ihm, dass es mir nicht gut ginge und ich gerne mal alleine mit ihm reden möchte. Er reagierte so, wie die meisten reagieren werden: Er sagte, dass das klar ginge, und nannte mir eine Zeit und einem Ort. 

Ich versuchte, mich auf das Gespräch vorzubereiten, in dem ich alles aufschrieb, was mich beschäftigte und es nach Priorität nummerierte. Auf diese Weise kann man sicherstellen, dass man das Wichtigste zuerst anspricht und es so auf jeden Fall besprochen wird. Zusätzlich kann so ein Zettel als Gedankenstütze dienen, damit man nichts vergisst. Diese Methode kann sehr hilfreich sein, um zu garantieren, dass man alles bespricht, was einem auf dem Herzen brennt. Allerdings kann es sein, dass das für dich nicht die richtige Methode ist. Sollte das der Fall sein, kannst du probieren, unvorbereitet in das Gespräch zu gehen und im Augenblick das ansprechen, was dir gerade durch den Kopf geht und wichtig erscheint. 

Der größte Fehler, den ich vor, während und nach der Fahrt gemacht habe, ist zu wenig mit anderen darüber zu reden. Das merkte ich erst ein Jahr später, als ich das zweite Mal fuhr und diesmal umgeben war von Menschen, mit denen ich mich traute zu reden. Deswegen empfehle ich dir, es dringend auszuprobieren, auch wenn du Angst davor hast. Wenn du es schaffst, sie für einen Moment zu überwinden und den Mund aufzumachen, wirst du womöglich mit einem tollen Gespräch belohnt.

Schreibe einen Kommentar