Zeitzeug*innen als Zeug*innen der Vergangenheit, als Menschen, die von historischen Ereignissen oder ihrem persönlichen Leben erzählen, sollten sich keine Sorgen darüber machen, interessant genug zu sein, um ein Publikum anzuziehen. Sie erzählen nicht, um interessant zu sein. Sie erzählen, um zu berichten, um nachfolgenden Generation ihr Erleben nah zu bringen.
Sie haben es sich zudem nicht ausgesucht, Zeitzeug*innen zu sein, sie sind es einfach geworden. Sie haben es sich ausgesucht, über ihre Erlebnisse zu berichten. Doch ich denke, dass sie dies oft aus einer Verantwortung tun, die sich selbst auferlegt haben. Sie haben das Gefühl, berichten zu müssen, weil es wichtig ist, dass von der Vergangenheit erzählen. Und das ist es. Deswegen finde ich, dass wir, die zuhören, etwas verständnisvoller sein sollten.
Ist es nicht unsere Verantwortung, das Interesse für die Vergangenheit aufzubringen? Vor allem dann, wenn uns der Zugang dazu so leicht gemacht wird, wenn wir haben jemanden vor uns sitzen, der dabei war und in Form seiner Erinnerungen erzählen kann, wie es war.
Wie komme ich zu dieser Frage?
Man stelle sich vor, vor einem sitzt eine Frau und erzählt einem, dass sich ihre Eltern sich quasi für sie geopfert haben. In 60 Minuten erzählt die Person intime Details ihres Lebens und davon, wie sie ihre Eltern verlor. Danach kommen einige zum Schluss, dass das nicht interessant sei. Begründet wird diese Aussage mit dem Alter der Frau zur damaligen Zeit und mit der nicht erfüllten Hoffnung, jemanden kennenzulernen, der in Auschwitz inhaftiert war.
Unglaublich, doch so ist es passiert. Der letzte Programmpunkt meiner ersten Gedenkstättenfahrt war ein Zeitzeuginnengespräch. Ich gebe zu, dass mir, so wie allen anderen das Zuhören schwer viel einfach, weil wir so erschöpft waren, jedoch hätte ich das Gespräch nie nach so einem Kriterium bewertet. Für mich ist das ein unrechtmäßiges Urteil, welches das wahre Leben verunglimpft und den Anspruch stellt, die Vergangenheit dramaturgisch durch zu konjugieren und ihr damit jeden Reiz nimmt.
Zusätzlich ist es gegenüber der Frau ein unfaires Urteil. Ich rechne es ihr hoch an, dass sie ihre Geschichte erzählt. Ich glaube nicht, dass es ihr leicht fällt. Ich war damals auch unzufrieden, aber nicht wegen ihr, sondern weil ich nicht die Konzentration aufbringen konnte, um ihr die ganze Zeit zu folgen, so wie sie es verdient hätte.
Muss eine Geschichte darüber, wie man seine Eltern verloren hat, interessant sein? Wenn ich darüber nachdenke, dann sträubt sich in mir alles. Ich erwarte von einem Film oder einem Buch, was ich in der Freizeit lese, dass es interessant ist, aber nicht von einem Menschen, der unter der Nazi-Diktatur gelitten hat. Meiner Meinung nach müssen wir klar differenzieren zwischen Büchern und Filmen, die wir gerne auf ihren Spannungsverlauf untersuchen können, und dem wahren Leben.
Muss ein Mensch, der etwas Wichtiges zu erzählen hat, sich wirklich darum sorgen machen, dass es nicht interessant ist? Nur weil er vielleicht einen Redestil hat, der schwer zu folgen ist oder nicht ausdrucksstark erzählt? Nicht jeder kann ein guter Redner sein. Nicht jeder, der etwas Wichtiges zu erzählen hat, kann ein guter Redner sein. Ich finde das okay. Ich verstehe auch die andere Seite: Es ist leichter, jemandem zu folgen, der einen einwandfreien Redefluss hat und sein Publikum mit Mimik und Gestik vereinnahmt. Das können wir aber wirklich nicht von jedem erwarten. Ganz besonders nicht, wenn er über so ein intimes, traumatisches und trauriges Thema redet. Ich fordere mehr Verständnis und weniger Erwartungen.
Wie die Sachen mit meinen Mitschüler*innen weiterging:
Meine Chemielehrerin fragte uns in der Chemiestunde nach der Gedenkstättenfahrt, was wir auf der Fahrt gemacht und gesehen haben und wie es uns damit ergangen war. Meine Mitschüler begannen zu erzählen. Sie schilderten den Ablauf der Fahrt und gaben jeweils kurz ihre persönlichen Eindrücke. Ich hörte lediglich zu und versuchte nicht aufzufallen, weil ich wirklich nichts dazu sagen wollte. Doch als eine meiner Mitschülerin das Zeitzeugengespräch als “uninteressant” urteilte, brach ich mein Schweigen, ohne groß darüber nachzudenken.
Neu war diese Einschätzung nicht, schon auf der Fahrt, wurde sie kundgetan. Während ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht traute, dagegenzuhalten, sprach ich nun umso bestimmter, wütender und lauter. Ich versuchte meinen Standpunkt “Zeitzeug*innen müssen nicht interessant sein”, so klar wie möglich zu machen. Natürlich feuerten meine Mitschülerinnen zurück und meine Chemielehrerin unterbrach das Ganze, forderte Ruhe und begann mit dem Unterricht.
Meine Konzentration war jedoch dahin, weshalb ich einfach nur wütend auf meinem Platz saß und meinen Mitschülerinnen böse Blicke zuwarf. Wir bekamen eine Aufgabe, die wir selbstständig abarbeiten sollten. Ich war in Gedanken versunken und schreckte erst hoch, als meine Lehrerin mich direkt ansprach. Sie bat mich, ihr im Nebenraum zur Hand zu gehen, was mich sehr verwunderte. Ich stand auf und folgte ihr in den Vorbereitungsraum, wo sie die Tür schloss und mir Raum bot zu erzählen, warum ich so wütend war. Ich war über ihr Vorgehen ganz erstaunt. Kaum einer vor ihr hat mir diese Möglichkeit geboten. Zum Ende des Gesprächs drückte sie mir ein Tablett mit Utensilien in die Hand und schickte mich zurück in den Klassenraum.
Dieses Vorgehen war aus meiner Sicht genau das Richtige. Im Klassenverband das Thema weiter zu behandeln, hätte nichts gebracht. Meine Lehrerin fand eine diskrete Weise, um mit mir allein zu reden. Hörte mir zu, gab mir ein wenig Input und bot sich an, falls ich zukünftig noch Gesprächsbedarf habe.